• Von Rostock nach Berlin West

    Von Rostock nach Berlin West

    Durch die Diskriminierung des unternehmerischen Elans der Mutter im Friseursalon festigte sich der Entschluss, Rostock den Rücken zuzukehren. Ira Schwarz hatte bis dahin einen Teil ihrer Ausbildung im Internat in Altenburg verbracht – wurde nun aber in die Fluchtvorbereitungen mit eingebunden. Alles spielte sich ab im Jahr 1958, also kurz vor dem Mauerbau 1961.

    Schritt für Schritt gen Freiheit

    In ihren Tagebucheinträgen zeichnet die damals 14-jährige Ira Schwarz ein detailliertes Bild ihrer Flucht aus der bisherigen Heimat. Die Mutter bereitet den Übergang schließlich haargenau vor und sucht sich Unterstützung bei Freunden, um den Verdacht der „Republikflucht“, und die damit verbundenen Strafen, von ihrer Familie abzulenken. In vielen Fußmärschen tragen sie das Hab und Gut der Familie in Körben aus dem Wohnhaus in ihr Ferienhaus. Dort werden die Sachen dann in einzelnen Päckchen auf befreundete Nachbarn verteilt, die sie einzeln abschicken müssen, da das Senden von Paketen mit einer Ausweiskontrolle verbunden ist. Ira Schwarz beschreibt diesen Prozess als „unvorstellbar“ – natürlich auch durch den kontinuierlichen Druck, nicht aufzufallen.

    Vorsicht ist besser als Nachsicht

    In einzelnen Bahnfahrten wird das Gepäck von Mutter und Tochter aus Rostock nach Berlin transportiert. Da hier ebenfalls die Menge und die Größe der Koffer begrenzt ist, steht die Familie wieder vor einer großen Herausforderung. Ein Mal kommt es tatsächlich zu einer Kontrolle durch einen Grenzbeamten, der sie kurz vor der letzten Haltestelle dazu auffordert, ihre Taschen zu öffnen. Nur durch ein falsches Signal und die verfrühte Abfahrt der Bahn umgehen die beiden die Kontrolle und überstehen so unbeschadet die Fahrt nach Berlin.

    Iras Flucht nach Berlin

    Auf ihrer letzten Fahrt nimmt schließlich ein Freund der Familie Ira Schwarz und ihre Mutter mit seinem Auto über die Grenze nach Berlin. Der Vater legt die Strecke getrennt auf dem Motorrad zurück, um keinen Verdacht zu erwecken. Für Ira ist die Fahrt mit dem Auto der Höhepunkt der Flucht und sie beschreibt eindrucksvoll den Druck, den dauerhaft bei der Autofahrt verspürt. Grenzkontrollen evozieren Beklemmung und der dichte Nebel vor der Großstadt wird zum letzten Spannungsmoment, bis sie endlich in West-Berlin ankommen. Der Vater hat den Grenzübergang auch gemeistert und wartet bereits auf sie in der Wohnung.

    Hauptstadtfeeling

    Mit der letzten Flucht beginnt für Ira Schwarz eine neue Zeit in Berlin, die erneut viele interessante Begegnungen und Wendungen beinhaltet. Ein eifriger Geist kommt nur schwer zu Ruhe – und so ereignet sich auch in ihrer neuen Heimatstadt wieder viel Neues.

  • Ein neuer Friseursalon und aus Kindheit wird Ernst

    Ein neuer Friseursalon und aus Kindheit wird Ernst

    Am 22. Dezember 1944 erblickt Ira Schwarz in dem kleinen Seebad Graal-Müritz die Welt. Schon die Geburt ist von einem Schicksalsschlag gezeichnet, der typisch für ihre Generation ist – ihr Vater fällt wenige Wochen vor ihrer Geburt; nur wenige Monate vor der Kapitulation des Dritten Reichs.

    Neuaufbau durch starke Frauen

    Nach ihrer Flucht aus Riga beweist die Mutter an diesem Punkt Unternehmergeist und investiert in eine neue Familienexistenz, indem sie einen neuen Friseursalon in Kühlungsborn eröffnet. Die kleine Ostseestadt liegt nur 50 Kilometer von Ira Schwarz’ Geburtsort entfernt. Dort wird sie die nächsten Jahre aufwachsen. Neben dem neuen Geschäft findet ihre Mutter auch einen neuen Mann – Erich Hohensee.

    Über ihn erweitert sich die Familie auch um die verwitwete Großmutter Olga Voss, die das Haus Quitte (Hyperlink) zu dieser Zeit noch allein bewirtschaftet. Die tiefe Verbundenheit von Ira Schwarz’ zu dem Gebäude zeigt sich auf vielen Fotos, auf denen sie spielend beim Haus zu sehen ist.

    Ein Stückchen Heimat für Ira Schwarz

    Auf den 12.000 Quadratmetern ist allerdings nur wenig von der Idylle und Gartenatmosphäre der Gegenwart zu spüren. Die Hochzeit ihrer Eltern ist wird begleitet von Löwenzahnsuppe und Kaninchenbraten, was in der entbehrungsreichen Nachkriegszeit ausreichen musste. Neben der hart arbeitenden Großmutter prägte Ira Schwarz auch die Arbeit ihrer Mutter, die bald merkt, dass sie sich mit ihrem Friseursalon in Kühlungsborn eingeengt fühlt.

    Bei einer allgemein-konservativen Haltung der Kühlungsborner Gemeinde fühlt sich die Mutter fortschreitend unwohl, da dort sogar ein modischer Hut kritisch aufgenommen wird. Daher nutzt sie auch direkt die Chance, als ihr ein Laden in Rostock angeboten wird. Zu dieser Zeit, mit 150.000 Einwohnern, zumindest eine der größten deutschen Seestädte. Eine Bereitschaft zu unternehmerischem Tatendrang, die Ira Schwarz zweifellos auch prägt und sich in vielerlei Hinsicht in ihrem späteren Handeln abzeichnet.

    Der wachsende Einfluss der SED

    Das fokussierte Wachstum Rostocks ist dabei durchaus gezielt gelenkt von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Von der SED wurde zu dieser Zeit entschieden, die Stadt zu einer „Magistrale“ mit dem wichtigsten Hafen für die DDR auszubauen. Durch das gesteigerte Interesse gerät Iras Mutter und der Erfolg ihres Salons in den Fokus einer Nachbarin, die sich als bemühte Kommunistin und SED-Parteimitglied an den Mühen der Familie stört.

    Erneut auf der Flucht

    Als Resultat der sich zuspitzenden Lebensumstände innerhalb der DDR-Stadt Rostock, entscheidet sich Iras Mutter erneut für eine Flucht aus einer politischen Extremsituation. Ziel ist Berlin –  und der Weg über die Grenze wird abenteuerlich.

  • Eine Familiengeschichte

    Eine Familiengeschichte oder Nur 7000 Kilometer bis zum nächsten Friseur

    Das 20. Jahrhundert ist geprägt von dem turbulenten Weltgeschehen, das den Menschen in und um Europa viel abforderte. Politische Extremzustände – und die daraus resultierenden Weltkriege – waren prägende Lebensbedingungen für die Individuen dieser Zeit; so auch für die Familie von Ira Schwarz.

    Iras Geschichte ist dabei gezeichnet vom Lebensweg ihrer Mutter Natalie Benson, deren Weg vom weit entfernten Baikalsee über Lettland schließlich nach Deutschland führt. Als geschäftstüchtige Unternehmerin eröffnet ihre Großmutter, wie auch später ihre Mutter, in jeder Stadt einen neuen Friseursalon und unterstützen so die Familie in den nicht immer einfachen Zeiten.

    Entscheidungen tragen ihre Spuren

    Bereits die Anfänge der Familie sind gezeichnet von den Krisen der Moderne. Im Jahr 1918 entscheiden sich die Großeltern von Ira Schwarz, mit ihrer Mutter aus der Heimatstadt Tschita am Baikalsee zu fliehen. Da der Ort in der Nähe der mongolischen Grenze liegt, ist das eine Reisestrecke von über 6000 Kilometer bis zum ersten längeren Zwischenstop in Moskau.

    Im Vergleich: selbst mit aktuellen Zugverbindungen wäre dies noch eine Reise von über vier Tagen. Im Russland nach der blutigen Oktober-Revolution natürlich ein Wagnis von größerem Ausmaß.

    Der Zwischenstop in Moskau wird bedingt durch eine Scharlacherkrankung der Kinder. Die Reise geht schließlich weiter über fast 1000 Kilometer in die lettische Hauptstadt Riga, in der Freunde die Familie empfangen und aufnehmen

    Unternehmerin, Flüchtende und Mutter

    Nachdem die Familie über 7000 Kilometer zurücklegte, wird sie durch eine neue politische Fügung endlich belohnt – den Staaten Estland, Litauen und natürlich Lettland gelingt die Unabhängigkeit von der jungen Sowjetunion. In dieser Zeit eröffnet Großmutter Benson ihren ersten Friseursalon in Riga; die Stadt, die sie liebevoll „Paris des Ostens“ nennt. Ihre Mutter Natalie erlernt dort ebenfalls den Beruf des Friseurs und die Familie erarbeitet sich durch ihren Unternehmergeist einen bescheidenen Wohlstand.

    Der Beginn des 2. Weltkriegs ändert erneut die Lebensumstände und die nun schwangere Mutter Natalie flüchtet schließlich mit dem Schiff über die Ostsee und kommt trotz eines russischen Fliegerangriffs sicher in Mecklenburg an. Die vier Söhne einer Cousine haben nicht so viel Glück und gehen nach dem Treffer eines russischen Torpedos mit dem Flüchtlingsschiff „Wilhelm Gustloff“ in der Nordsee unter. Ein Verlust, der sie ihr Leben lang zeichnen wird.

    Das nächste Kapitel: Ira Schwarz

    In Nazideutschland, kurz vor Kapitulation, kommt es schließlich zur Geburt Ira Schwarz’ und einem neuen Abschnitt in der Familiengeschichte, der genauso ereignisreich ist, wie der bisherige Werdegang.